Ghaselen des Dschelal-eddin Rumi

Eine Ghasale, d.h. ein Gedicht aus „Ghaselen des Dschelal-eddin Rumi“

Übertragen aus dem Englischen, die Überarbeitung der Übersetzung von Josef v. Hammer, Friedrich Rückert und Karl Thylmann, Erschienen um 1912 im Der Kommende Tag A.-G. Verlag, Stuttgart

Ich war am Tag da keine Namen waren,
Noch irgend ein Anzeichen von Dasein mit Namen begabt war.
Durch mich wurden Namen und Bekanntes wirklich,
Am Tag, als da weder „ich“ noch „wir“ war.
Als Zeichen ward die Lockenspitze des Geliebten ein Zentrum der Offenbarung!
Bis dahin war die Spitze dieser schönen Locke nicht.
Ich suchte bei Kreuz und Christen, von End zu End.
Er war nicht am Kreuz.
Ich kam zum Götzentempel, kam zur alten Pagode:
Keine Spur war da zu finden.
Ich kam zu den Bergen Harat und Kandahar.
Ich sah mich um, er war nicht im Bergland.
Ich nahm mir’s vor und stieg zum Gipfel des Kat.
Dort war bloß die Wohnstätte des Anka.
Ich griff die Zügel, um in der Kaabu nachzuforschen;
Er war nicht in diesem Sammelpunkt von Alt und Jung.
Ich schaute in mein eigenes Herz:
Da sah ich ihn. Er war nicht anderswo.
Außer dem seelenlauteren Schems Tebrisi
War niemand trunken und berauscht und verzückt.

 

 

Anmerkungen:
Lest sie erst, nachdem ihr einige Zeit mit dem Gedicht verbracht habt.

Der Tag, da keine Namen waren, liegt vor der Schöpfung. Darin liegt ein Hinweis auf die 36.Sure, Vers 82:

Und wenn Er eine Sache will, sagt Er zu ihr „Sei“ und sie ist.

Alles, was jemals war und jemals sein wird, ist immer schon da und tritt durch die Ansprache Gottes ins Leben.
Bis dahin existiert alles in der Einheit Gottes.
Die Lockenspitze des Geliebten ist ein Bild für die Bedeutung der Liebe in der Schöpfung und dass Gott alles in Paaren erschuf:

Preis sei Demjenigen, der alles in Paaren erschuf, alles was aus der Erde hervorkommt und alle von ihnen selbst und alles, was sie nicht wissen. (Sure 36, Vers 36)

Anziehung und Suche nach der Ergänzung sind Schöpfungsprinzipien. Der Weg zur Rückkehr in die  göttliche Einheit beginnt mit der Suche nach dem Geliebten.
Der Geliebte, der gesucht wird, ist Sinnbild für das Gegenüber, das der Mensch braucht und ein Sinnbild letztendlich für Gott.
Dass der Geliebte und Gott eins sind, erkennen wir an den Plätzen, an denen nach ihm gesucht wird.
Die Berge Harat und Kandahar liegen im heutigen Afghanistan, der Heimat des Pir.

Der Gipfel des Berges Kat liegt nicht in dieser Welt, es ist ein mythisches Zwischenreich. Oft wird dieser Berg auch Qaf genannt und das Qaf als Buchstabe steht für al-Qadir, Gott, der zu allem fähig ist. Auch die 50. Sure im Erhabenen Qur’an trägt den Namen Qaf und beginnt mit diesem Buchstaben. Darin ist erwähnt, dass Gott dem Menschen näher ist als (seine) Halsschlagader. Sure 50, Vers 16

So wie auch der Vogel Anka ein Zaubervogel und Sinnbild für die menschliche Seele (ruh) ist.
Selbst bei der Kaaba ist der Geliebte nicht zu finden.
Im eigenen Herzen schließlich, nicht in der äußeren Welt, nicht auf den höchsten Bergen, an den Heiligen Plätzen der Menschheit, sieht er schließlich den Geliebten. Nach einer langen Suche, auf der er keine Mühe gescheut hat und wahrscheinlich auch viel Zeit damit verbracht hat. Und weil der Mensch Gott zu Lebzeiten nicht erkennen kann, erblickt er Ihn in der Gestalt seines Seelenfreundes Schemsu-d-din. Und jener  war ganz berauscht vom Gefundenwerden. Dieses Bild drückt aus, wie sehr Gott darauf wartet, vom Menschen gefunden zu werden.
„Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden,“ so sprach Gott zum Propheten Muhammad (s.a.w.s.) in einem heiligen Hadith (hadith-i qudsi).

Veröffentlicht in Sufitum, Tariqa und verschlagwortet mit , , , .

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